Sternengeschichten Folge 540: Das Tychonische Weltmodell

Das beste aus beiden Welten

Sternengeschichten Folge 540: Das Tychonische Weltmodell

Wir wissen heute, dass sich die Erde in einer Umlaufbahn um die Sonne bewegt, genau so wie die anderen Planeten des Sonnensystems. Früher dachten die Menschen, es wäre umgekehrt: Die Erde wäre das Zentrum des Universums und Sonne und die anderen Himmelskörper würden sich um sie herum drehen. Den Wechsel von diesem geozentrischen Weltbild zum modernen heliozentrischen Bild haben wir der Arbeit von Nikolaus Kopernikus, Galileo Galilei und Johannes Kepler zu verdanken.

Das ist alles richtig - aber es ist nicht die komplette Geschichte. Es gab auch lange vor Nikolaus Kopernikus schon Menschen, die davon überzeugt waren, dass sich die Erde um die Sonne bewegt (zum Beispiel in der griechischen Antike). Kopernikus Modell des Sonnensystems war zwar revolutionär, hat die Beobachtungsdaten aber nicht dramatisch besser erklärt als das alte geozentrische Weltbild. Das lag daran, dass Kopernikus immer noch davon ausging, dass sich die Planeten auf Kreisbahnen bewegen und erst durch die Arbeit von Kepler und Newton bekam man ein realistisches Bild der Planetenbewegung. Aber davon habe ich ersten schon in früheren Sternengeschichten erzählt und zweitens soll es heute um etwas anderes gehen: Das Tychonische Weltmodell.

Benannt ist es nach dem dänischen Astronom Tycho Brahe, von dessen aufregenden Leben ich schon in Folge 167 ausführlich erzählt haben. Er lebte im 16. Jahrhundert und war der letzte große Astronom, der noch ohne Teleskop gearbeitet hat. Seine Beobachtungen haben es seinem Schüler Johannes Kepler ermöglicht, sein revolutionäres Werk "Astronomia Nova" zu verfassen und die Bewegung der Planeten zu erklären. Brahe hat Kometen beobachtet und gezeigt, dass sie sich weit außerhalb der Umlaufbahn des Mondes befinden, was damals eine durchaus bemerkenswerte Erkenntnis war. Damals gingen immer noch die meisten Menschen von der antiken Vorstellung aus, dass die Planeten an kristallenen Sphären montiert sind, die sich um die Erde drehen. Tycho Brahe konnte zeigen, dass Kometen sich durch diese Sphären hindurch bewegen müssen; dass diese Sphäre also nicht existieren können.

Diese Arbeit und andere Beobachtungen brachten Brahe dazu, das geozentrische Weltbild im Laufe der Zeit immer kritischer zu sehen. Andererseits wollte er sich aber auch nicht von der Vorstellung der Erde als Mittelpunkt lösen. Deswegen entwickelte er etwas, das man als eine Art Kompromiss verstehen kann: Ein geo-heliozentrisches Weltsystem, in der sich die Planeten zwar um die Sonne bewegen, die Erde aber trotzdem das Zentrum ist.

Im Detail sieht das so aus: Die Erde ist der Mittelpunkt und der Mond bewegt sich um die Erde herum. Ebenfalls um die Erde bewegt sich die Sonne, so wie im geozentrischen System. Aber wie im heliozentrischen System bewegen sich Merkur, Venus, Mars, Jupiter und Saturn um die Sonne. Anders gesagt: Die Sonne, mitsamt den Planeten umkreist die Erde, die sich selbst nicht bewegt.

Das klingt zuerst einmal unnötig kompliziert. Die Erde in der Mitte oder auch die Sonne in der Mitte und alles andere bewegt sich rundherum: Das hat eine gewisse Eleganz. Aber quasi zwei Mittelpunkte - das klingt verwirrend. Aber die Idee von Tycho Brahe ist nicht so seltsam, wie sie auf den ersten Blick aussieht. Und es war übrigens auch keine Idee, die nur Tycho Brahe hatte. Im 16. Jahrhundert gab es mehrere Menschen, die sich so ein Mischsystem vorgestellt haben. Zum Beispiel Nicolaus Reimers; der Vorgänger von Tycho Brahe als kaiserlicher Hofmathematiker in Prag, der auch Kopernikus Werk ins Deutsche übersetzt hat. Reimers Modell unterschied sich ein wenig von Brahes; bei Brahe stand die Erde zum Beispiel still, bei Reimers drehte sie sich um ihre Achse. Reimers hat Brahe aber auf jeden Fall vorgeworfen, die Idee von ihm geklaut zu haben, was der selbstverständlich bestritt. Schon lange vor den beiden, im 6. Jahrhundert, hat der römische Gelehrte Martianus Capella ein Weltmodell vorgestellt in dem sich Venus und Merkur um die Sonne bewegen, die Sonne und der Rest der Planeten aber die Erde. Im frühen 16. Jahrhundert hat der indische Astronom Nilakantha Somayaji ebenfalls ein Modell entwickelt, dass dem Tychonischen Weltmodell entspricht.

Aber lassen wir jetzt mal die Streitigkeiten über Prioritäten und die diversen Variationen und Vorläufer weg und bleiben bei Tycho Brahes Weltmodell. Wenn man sich das ein wenig genauer anschaut, dann ist es nämlich gar nicht so dumm, wie man denken würde. Man muss es sich aber mit den Augen der Menschen aus dem 17. Jahrhundert anschauen. Oder besser gesagt: Mit den Teleskopen des 17. Jahrhunderts. Die waren damals ja noch neu; Anfang des 17. Jahrhunderts war Galileo Galilei der erste, der so ein Gerät an den Himmel gerichtet und damit Planeten und Sterne beobachtet hat. Dabei hat Galilei natürlich auch jede Menge Sterne gesehen. Aber nicht als die Lichtpunkte, die man bei der Beobachtung mit freiem Auge gewöhnt war. Die Sterne zeigten sich in Galileis Teleskop als kleine Scheibchen; unterschiedlich hell und unterschiedlich groß. Galileo Galilei ging davon aus, dass er hier die tatsächliche Form der Sterne sah. Und es eben große Sterne gab, kleine Sterne, in unterschiedlichen Entfernungen und deswegen auch unterschiedlich hell. Eine prinzipiell vernünftige Annahme, nur leider eine, von der wir heute wissen, dass sie falsch ist.

Die Sterne sind so weit entfernt, dass wir auch in sehr großen Teleskopen nicht mehr sehen als Punkte. Und erst recht gilt das für das Teleskop, das Galilei damals benutzt hat. Dass er trotzdem Scheibchen gesehen hat, lag an diversen optischen Effekten. Ich hab das ausführlich in Folge 309 erklärt, als ich von den Airy-Scheiben gesprochen habe.

Was man damals auch beobachten konnte: Die Himmelskörper scheinen sich definitiv um die Erde herum zu bewegen. Aber nicht so, wie sie es tun sollten, wenn die Erde im Mittelpunkt ist und alle anderen sich um sie drehen. Immer wieder hat man Planeten beobachtet, die "rückläufig" sind. Das soll folgendes bedeuten: Schaut man sich zum Beispiel an, wo sich der Mars Nacht für Nacht am Himmel befindet, dann sieht man, wie er sich immer in die selbe Richtung bewegt. Irgendwann scheint er aber stehen zu bleiben und wandert dann für einige Zeit sogar rückwärts, bis er wieder die übliche Richtung aufnimmt. Die Vertreter des geozentrischen Weltbildes haben dieses Verhalten durch Epizykel erklärt. Also angenommen, dass sich die Planeten nicht auf einer Kreisbahn um die Erde herum bewegen, sondern auf einer Kreisbahn, deren Mittelpunkt sich auf einer Kreisbahn um die Erde bewegt. In so einem Fall würde ein Planet tatsächlich immer wieder scheinbar vor- und rückwärts am Himmel wandern.

Das Tychonische Weltbild hat diese Epizykel quasi gleich fix eingebaut. Die Planeten bewegen sich um die Sonne. Und die Sonne um die Erde herum. Auch hier findet man immer wieder rückläufige Bahnen.

Wo stehen wir jetzt, aus Sicht des 17. Jahrhunderts? Wir haben beobachtet, dass die Planeten sich rückläufig bewegen können. Wir haben beobachtet, dass das Universum voller Sterne ist, in unterschiedlichen Entfernungen. Die erste Beobachtung legt nahe, dass sich Sonne mit den Planeten um die Erde herum bewegt. So wie es im tychonischen Weltbild beschrieben ist. Aber was ist mit der zweiten Beobachtung? Hier wird es ein wenig kompliziert.

Der Hauptunterschied zwischen dem heliozentrischen System und dem tychonischen Weltbild ist die Position der Erde. Im ersten Fall bewegt sich die Erde um die Sonne; im zweiten Fall ruht sie im Zentrum des Universums und dreht sich höchstens um ihre eigene Achse. Das hab ich jetzt schon oft gesagt, aber dieser Unterschied ist wichtig, denn auch den Menschen damals war klar, was daraus folgt. Wäre die Erde im Zentrum, dann würden sich die Sterne entweder auch um die Erde herum bewegen. Oder aber die Sterne wären irgendwo fix und würden sich nur scheinbar bewegen, weil die Erde sich dreht. Am Ende ist der Effekt der selbe; wenn die Erde sich aber um die Sonne bewegt, dann bedeutet das, das wir im Laufe eines Umlaufs, also eines Jahrs, aus unterschiedlichen Blickrichtungen auf die Sterne schauen. Und sich die scheinbare Position der näheren Sterne vor dem Hintergrund der ferneren Sterne ändern würde. Je nachdem von wo wir gerade schauen, sehen wir sie mal vor dem einen und mal dem anderen Hintergrund. Dieses Phänomen nennt man "Parallaxe" und auch darüber habe ich schon oft in den Sternengeschichten gesprochen.

Der relevante Punkt ist: Je weiter entfernt ein Stern ist, desto kleiner ist die scheinbare Bewegung. Wie gesagt, all das war den Menschen damals bekannt. Wenn man also keine Parallaxe bei den Sternen beobachten kann, dann bedeutet das entweder, dass die Sterne sehr, sehr weit entfernt und die scheinbare Bewegung zu klein ist, um sie beobachten zu können. Oder aber es heißt, dass es keine Parallaxe GIBT, weil die Erde sich nicht um die Sonne bewegt. Galileo Galilei war vom ersten Fall überzeugt: Die Sterne sind alle weit weg und deswegen sehen wir keine Parallaxe; es gibt also keinen Widerspruch zum heliozentrischen Weltbild.

Ein Zeitgenosse von Galilei war der deutsche Astronom Simon Marius, von dem ich in Folge 131 schon mehr erzählt habe. Er hat sich immer wieder Mal mit Galilei gestritten; unter anderem darüber, wer die Jupitermonde als erster entdeckt hat. Heute wissen wir, dass es Galilei war; Marius war aber nur kurz dahinter und die Mondes des größten Planeten unabhängig von seinem italienischen Kollegen gefunden. Auch Marius hat die Sterne beobachtet; auch Marius hat die Scheibchen gesehen - kam aber zu ganz anderen Schlüssen als Galilei. Marius war der Meinung, dass die Sterne vergleichsweise nahe sein müssen, wenn man sie als Scheibchen im Teleskop sehen kann. Außerdem sah er, dass nicht alle Himmelskörper sich direkt um die Sonne bewegen müssen; die Jupitermonde kreisen um Jupiter und mit ihm gemeinsam um die Sonne. Wenn die Sterne also nahe sind, dann müsste man eine Parallaxe sehen können, wenn sich tatsächlich die Erde um die Sonne herum bewegt. Wir sehen aber keine Parallaxe; wir sehen stattdessen, dass es auch Bewegungen gibt, bei denen nicht die Erde im Mittelpunkt ist. Die naheliegende Schlussfolgerung: Die Planeten bewegen sich um die Sonne und die Sonne um die Erde herum.

Aus Sicht des frühen 17. Jahrhunderts war das tychonische Weltbild also eine durchaus plausible Angelegenheit. Simon Marius hat mit seiner Argumentation genaugenommen Recht gehabt, wenn auch aus den falschen Gründen. Und auch Galilei hatte Recht, ebenfalls aus den falschen Gründen. Beiden fehlte das nötige Wissen zur Optik, um zu verstehen, warum Sterne in einem Teleskop als Scheibchen zu sehen sind und zu verstehen, dass das nichts mit dem Abstand oder dem realen Aussehen der Sterne zu tun haben, sondern einfach mit den optischen Eigenschaften eines Teleskops.

Erst die Arbeit von Johannes Kepler und Isaac Newton hat gezeigt, wie man das heliozentrische Modell brauchbar verwenden kann, um die Bewegung der Planeten zu verstehen. Und genaugenommen hat erst der Astronom Friedrich Wilhelm Bessel jeden Zweifel beseitigt, als es ihm 1838 als erstem gelungen ist, die Parallaxe eines Sterns und damit seine Entfernung zu messen. Die Sterne waren tatsächlich weit entfernt; viel weiter als man dachte und es war daher auch keine Überraschung, dass Galilei und seine Zeitgenossen keine Chance hatten, diese Parallaxe zu beobachten.

Das Tychonische Weltbild mag auf den ersten Blick absurd erscheinen; als eine unnötig komplizierte Konstruktion, die nur geschaffen wurde, weil ein paar halstarrige alte Astronomen den Fortschritt nicht akzeptieren wollten. Aber diese Ansicht verkennt, dass man die Dinge immer Licht ihrer Zeit betrachten muss. Und wenn es nachdem geht, was die Menschen damals mit den vorhandenen technischen Mitteln herausfinden konnten, dann war das Tychonische Modell eine gute Beschreibung der Realität und, wenn man so will, fast besser als das heliozentrische Weltbild. Dass wir heute mehr wissen als in der Vergangenheit kann man den Leuten im 17. Jahrhundert nicht vorwerfen.