Dynamische Benetzung

Gudrun spricht in dieser Folge mit Mathis Fricke von der TU Darmstadt über Dynamische Benetzungsphänomene. Er hat 2020 in der Gruppe Mathematical Modeling and Analysis bei Prof. Dieter Bothe promoviert. Diese Gruppe ist in der Analysis und damit in der Fakultät für Mathematik angesiedelt, arbeitet aber stark interdisziplinär vernetzt, weil dort Probleme aus der Verfahrenstechnik modelliert und simuliert werden.

Viele Anwendungen in den Ingenieurwissenschaften erfordern ein tiefes Verständnis der physikalischen Vorgänge in mehrphasigen Strömungen, d.h. Strömungen mit mehreren Komponenten. Eine sog. "Kontaktlinie" entsteht, wenn drei thermodynamische Phasen zusammenkommen und ein komplexes System bilden. Ein typisches Beispiel ist ein Flüssigkeitströpfchen, das auf einer Wand sitzt (oder sich bewegt) und von der Umgebungsluft umgeben ist. Ein wichtiger physikalischer Parameter ist dabei der "Kontaktwinkel" zwischen der Gas/Flüssig-Grenzfläche und der festen Oberfläche. Ist der Kontaktwinkel klein ist die Oberfläche hydrophil (also gut benetzend), ist der Kontaktwinkel groß ist die Oberläche hydrophob (schlecht benetzend). Je nach Anwendungsfall können beide Situationen in der Praxis gewollt sein. Zum Beispiel können stark hydrophobe Oberflächen einen Selbstreinigungseffekt aufweisen weil Wassertropfen von der Oberfläche abrollen und dabei Schmutzpartikel abtransportieren (siehe z.B. https://de.wikipedia.org/wiki/Lotoseffekt).

Dynamische Benetzungsphänomene sind in Natur und Technik allgegenwärtig. Die Beine eines Wasserläufers nutzen eine ausgeklügelte hierarchische Oberflächenstruktur, um Superhydrophobie zu erreichen und das Insekt auf einer Wasseroberfläche leicht stehen und laufen zu lassen. Die Fähigkeit, dynamische Benetzungsprozesse zu verstehen und zu steuern, ist entscheidend für eine Vielzahl industrieller und technischer Prozesse wie Bioprinting und Tintenstrahldruck oder Massentransport in Mikrofluidikgeräten. Andererseits birgt das Problem der beweglichen Kontaktlinie selbst in einer stark vereinfachten Formulierung immer noch erhebliche Herausforderungen hinsichtlich der fundamentalen mathematischen Modellierung sowie der numerischen Methoden.

Ein übliche Ansatz zur Beschreibung eines Mehrphasensystems auf einer makroskopischen Skala ist die Kontinuumsphysik, bei der die mikroskopische Struktur der Materie nicht explizit aufgelöst wird. Andererseits finden die physikalischen Prozesse an der Kontaktlinie auf einer sehr kleinen Längenskala statt. Man muss daher das Standardmodell der Kontinuumsphysik erweitern, um zu einer korrekten Beschreibung des Systems zu gelangen. Ein wichtiges Leitprinzip bei der mathematischen Modellierung ist dabei der zweite Hauptsatz der Thermodynamik, der besagt, dass die Entropie eines isolierten Systems niemals abnimmt. Dieses tiefe physikalische Prinzip hilft, zu einem geschlossenen und zuverlässigen Modell zu kommen.

Die größte Herausforderung in der kontinuumsmechanischen Modellierung von dynamischen Benetzungsprozessen ist die Formulierung der Randbedingungen für die Navier Stokes Gleichungen an der Festkörperoberfläche sowie am freien Rand zwischen Gas und Flüssigkeit. Die klassische Arbeit von Huh und Scriven hat gezeigt, dass die übliche Haftbedingung ("no slip") an der Festkörperoberfläche nicht mit einer bewegten Kontaktlinie und damit mit einem dynamischen Benetzungsprozess verträglich ist. Man kann nämlich leicht zeigen, dass die Lösung für die Geschwindigkeit in diesem Fall unstetig an der Kontaktlinie wäre. Weil das Fluid (z.B. Wasser) aber eine innere Reibung (Viskosität) besitzt, würde dann mit einer unendlichen Rate ("singulär") innere Energie in Wärme umgewandelt ("dissipiert"). Dieses Verhalten ist offensichtlich unphysikalisch und zeigt dass eine Anpassung des Modells nötig ist. Einer der wesentlichen Beiträge von Mathis Dissertation ist die qualitative Analyse von solchen angepassten Modellen (zur Vermeidung der unphysikalischen Singularität) mit Methoden aus der Geometrie. Die Idee ist hierbei eine systematische Untersuchung der "Kinematik", d.h. der Geometrie der Bewegung der Kontaktlinie und des Kontaktwinkels. Nimmt man das transportierende Geschwindigkeitsfeld als gegeben an, so kann man einen fundamentalen geometrischen Zusammenhang zwischen der Änderungsrate des Kontaktwinkels und der Struktur des Geschwindigkeitsfeldes herleiten. Dieser geometrische (bzw. kinematische) Zusammenhang gilt universell für alle Modelle (in der betrachteten Modellklasse) und erlaubt tiefe Einsichten in das qualitative Verhalten von Lösungen.

Neben der mathematischen Modellierung braucht man auch numerische Werkzeuge und Algorithmen zur Lösung der resultierenden partiellen Differentialgleichungen, die typischerweise eine Variante der bekannten Navier-Stokes-Gleichungen sind. Diese nichtlinearen PDE-Modelle erfordern eine sorgfältige Auswahl der numerischen Methoden und einen hohen Rechenaufwand. Mathis entschied sich für numerische Methoden auf der Grundlage der geometrischen VOF (Volume-of-Fluid) Methode. Die VOF Methode ist eine Finite Volumen Methode und basiert auf einem diskreten Gitter von würfelförmigen Kontrollvolumen auf dem die Lösung des PDE Systems angenähert wird. Wichtig ist hier insbesondere die Verfolgung der räumlichen Position der freien Grenzfläche und der Kontaktlinie. In der VOF Methode wird dazu für jede Gitterzelle gespeichert zu welchem Anteil sie mit Flüssigkeit bzw. Gas gefüllt ist. Aus dieser Information kann später die Form der freien Grenzfläche rekonstruiert werden. Im Rahmen von Mathis Dissertation wurden diese Rekonstruktionsverfahren hinsichtlich Ihrer Genauigkeit nahe der Kontaktlinie weiterentwickelt.

Zusammen mit komplementären numerischen Methoden sowie Experimenten im Sonderforschungsbereich 1194 können die Methoden in realistischen Testfällen validiert werden. Mathis hat sich in seiner Arbeit vor allem mit der Dynamik des Anstiegs einer Flüssigkeitssäule in einer Kapillare sowie der Aufbruchdynamik von Flüssigkeitsbrücken (sog. "Kapillarbrücken") auf strukturierten Oberflächen beschäftigt. Die Simulation kann hier als eine numerische "Lupe" dienen und Phänomene sichtbar machen die, z.B wegen einer limitierten zeitlichen Auflösung, im Experiment nur schwer sichtbar gemacht werden können. Gleichzeitig werden die experimentellen Daten genutzt um die Korrektheit des Modells und des numerischen Verfahrens zu überprüfen.



Literatur und weiterführende Informationen

229(10), 1849–1865 (2020).